Grundschrift: Rhetorisch, veraltet und schwach fundiert

Um sich ein Bild davon zu machen, wie es zur Entwicklung des Grundschriftkonzeptes kam, sind die diesbezüglichen Beschreibungen von Grundschriftbefürwortern aufschlussreich. Sie zeigen, wie oberflächlich und einseitig die Konzeptionierung erfolgte und wie schmal und uneindeutig die wissenschaftliche Absicherung ausfiel.

1. Vorrang für Rhetorik

„Diese Abfolge [das Aufeinanderfolgen von Druckschrift in Klasse 1 und verbundener Ausgangsschrift in Klasse 2] die veranlasste den Grundschulverband im Jahr 2005 zu fragen: Wie viele Schriften brauchen Grundschulkinder? Es war eigentlich eine rhetorische Fragen [sic!], denn die Antwort liegt auf der Hand: Für die Weiterentwicklung zu einer individuellen Handschrift ist nur eine Ausgangsschrift erforderlich. Die weitere Schriftentwicklung muss dann unterrichtlich begleitet werden, auch mit dem Ziel, wie es die Bildungsstandards vorgeben: eine gut lesbare, flüssig geschriebene Handschrift (siehe KMK 2005, S. 10).“ (zitiert nach Bartnitzky / Hecker, Mit der Grundschrift zur persönlichen Handschrift, September 2014; Quelle: http://www.die-grundschrift.de/konzept/warum-und-wie/ Stand 04.01.2016; Einfügungen in eckiger Klammer durch G.T.)

Kommentar: Bartnitzky / Hecker waren gemäß ihrer obigen Aussage bereits im Jahr 2005 überzeugt, dass nur eine Ausgangsschrift benötigt wird, um Schreiben zu lernen anstatt ein Aufeinanderfolgen von Druck- und späterer Ausgangsschrift. Die Autoren begründen dies ausschließlich mit der Behauptung "liegt auf der Hand" und bringen damit wohl am ehesten zum Ausdruck, dass es Ihrer Ansicht nach wohl "offensichtlich" (im Sinne von für jedermann erkennbar) sei. Bartnitzky / Hecker vermeiden damit eine eindeutige Herleitung ihrer Aussage. Es verbleibt unklar, ob sie sich z.B. auf den Sachverhalt berufen, dass es vor Einführung der Druckschrift als Erstschrift in der Bundesrepublik Deutschland in den 80er Jahren wie auch in der Deutschen Demokratischen Republik bis zur Wiedervereinigung bereits jahrzehntelang möglich war, aus einer einzigen - allerdings verbundenen ausgeführten - Ausgangsschrift eine individuelle Handschrift zu entwickeln. Diese hatte sich als alltagstauglich erweisen und jeder, der später lieber Druckschrift schreiben wollte, konnte dies auf der Grundlage der verbundenen Ausgangschrift tun. Bartnitzky / Hecker könnten aber mit "liegt auf der Hand" sich z.B. auch auf us-amerikanische Verhältnisse beim Schreiberwerb beziehen (wobei der Verzicht auf eine verbundene Schrift auch in den USA kontrovers diskutiert wird). Die beiden Grundschriftbefürworter könnten aber einfach auch nur ihre persönliche Überzeugung zur allgemeingültigen Wahrheit hochstilisieren. Grundschüler wie auch Lehrkräfte in Deutschland sollten jedoch auf mehr als nur Rhetorik (Kunst der Überzeugung mit rednerischen sprachlichen Mitteln) Anspruch erheben können, wenn es um die Begründungen für eine Umgestaltung grundlegender schulischer Realitäten geht.

2. Schulpraktische Erfahrungen

Das schriftdidaktische Konzept der Grundschrift Im Grundschulverband bildete sich nach 2005 die Projektgruppe "Grundschrift", bestehend aus Personen der Schulpraxis, der Wissenschaft und Fachdidaktik (siehe das Autorenteam in: Bartnitzky / Hecker / Mahrhofer 2011). Schulpraktische Erfahrungen sammelten wir an Schulen, die während aller Grundschuljahre das Schreiben mit Druckbuchstaben bevorzugten (Grundschulverband 2010, bes. S. 17 - 22).“ (zitiert nach Bartnitzky / Hecker, Mit der Grundschrift zur persönlichen Handschrift, September 2014; Quelle: http://www.die-grundschrift.de/konzept/warum-und-wie/ Stand 04.01.2016)

Kommentar: In der Veröffentlichung werden vor allem schulpraktische Berichte aus zwei Schulen angeführt, die im näheren Umkreis der von U. Hecker zwischen 1993 und bis Anfang Januar 2016 geleiteten Regenbogenschule Moers liegen. Aus der Grundschule in Veen (Teilort der Gemeinde Alpen (NRW) mit 1881 Einwohnern), berichten Bode / Winzen wie folgt:

„Im 3. und 4. Schuljahr zeigen manche Lehrerinnen die Möglichkeit des (sichtbaren) Verbindens von Buchstaben beim Schreiben, z. B. indem sie an der Tafel bei Tafelanschriften in ihrer eigenen Handschrift Buchstabenverbindungen vermehrt zulassen.“ (Bode/Winzen 2011: 152)

Kommentar: Die obige Zitatstelle scheint deutlich zu machen, dass in der Grundschule Veen durch Lehrkräfte keineswegs mehrheitlich ("manche") das verbundene Schreiben gezielt vermittelt wird. Als vermittelndes Beispiel wird das visuelle Modell des Tafelanschriebs der Lehrkraft. Als Resultat berichten Bode/Winzen dann wie folgt:

„Kinder, die während der gesamten Grundschulzeit in Druckschrift geschrieben haben, behalten offenbar auch in der Sekundarstufe überwiegend die Druckschrift bei, aus der sie, meistens schon in der Grundschulzeit, ihre Handschrift entwickeln. Einzelne Buchstaben werden eher wenig oder gar nicht sichtbar verbunden.“ (Bode/Winzen 2011: 157)

Kommentar: Zur Illustrierung der Schriften von Veener Schülern werden Schriftbeispiele von zwei Mädchen aus der vierten Klasse, einem Mädchen aus der zehnten Klasse sowie einem Jungen aus der achten Klasse als Abbildungen angeführt. In sämtlichen Schriftbeispielen finden sich so gut wie keine Buchstabenverbindungen (vgl. ebd. S. 154f.). Mit ihren Beobachtungsdaten belegen Bode / Winzen, dass das Vermitteln einer Druckschrift bei Schülern nicht automatisch zu Aneignung einer z.B. teilverbundenen Schreibweise durch Schüler führt. Das visuelle Modell als Tafelanschrieb mit Teilverbindungen scheint damit nicht auszureichen, um bei den Schülern ein Verständnis und Interesse für ein verbundenes Schreiben zu erreichen. Ähnliches berichten Hurschler Lichtsteiner / Betschart (2011) zur schweizer Basischrift, bei der Kinder aktiv angehalten und darin trainiert werden müssen, Buchstabenverbindungen zu schreiben (vgl. ebd. S. 167 sowie 171).

„Im Herbst 2009 habe ich an allen Schulen, die unsere Schüler aufnehmen, eine mündliche Abfrage hinsichtlich Auffälligkeiten beim Schreiben der Veener Kinder gemacht. Hier kamen keine negativen Rückmeldungen, abgesehen von zwei Stimmen, die Angaben, Kinder von unserer Schule in Klasse fünf oder sechs hätten die Tafelanschriebe der Lehrer nicht lesen können. Hier ist zu berücksichtigen, dass sich auch Lehrer manchmal unangepasst verhalten.“ (Bode / Winzen, 2011: 152)

Kommentar: Interessant bei der Darstellung von Bode / Winzen ist die undifferenziert-dümmliche-ignorante Ursachenzuschreibung ("Lehrer manchmal unangepasst"), die nicht zur Kenntnis nehmen will, dass die Kompetenz zum Erlesen verbunden ausgeführter Handschriften wohl in der Grundschulzeit nicht angemessen auftrainiert werden konnte. Bode / Winzen sehen für die Überbrückung dieses Kompetenzdefizits die Lehrkräfte der Sekundarstufe in der Verantwortung, nicht jedoch die Ausgestaltung der eigenen Schriftsprachvermittlung.

3. Wissenschaftliche Fundierung

„Wissenschaftlichen Rat holten wir uns mit einer Studie, die den Stand der Forschung zum Schreibenlernen zusammenfasst und unter Berücksichtigung des Forschungsstandes Schriftentwicklungen mit "graphomotorisch vereinfachten Schreibvorgaben" untersucht (Mahrhofer 2004).“ (zitiert nach Bartnitzky / Hecker, Mit der Grundschrift zur persönlichen Handschrift, September 2014; Quelle: http://www.die-grundschrift.de/konzept/warum-und-wie/ Stand 04.01.2016)

Kommentar: Die Dissertation von Mahrhofer (2004) dient der Projektgruppe Grundschrift als empirische Unterfütterung und argumentatives Feigenblatt für die wissenschaftliche "Fundiertheit" des Konzeptes. Die Dissertation von Mahrhofer (2004) weist allerdings mehrere Schwächen auf:

(a) in der überwiegenden Mehrheit ihrer Literaturbezüge deckt sie den Forschungsstand bis zum Jahr 1999 ab (nur 22 Literaturverweise mit dem Veröffentlichungsdatum ab einschließlich dem Jahr 2000 werden im Literaturverzeichnis angeführt). Diesem Referenzwerk der Grundschriftbefürworter kann also mittlerweile eine relative Inaktualität bescheinigt werden, insbesondere im Hinblick auf neuere Erkenntnisse aus der neurologischen Forschung zu Aspekten des Schriftspracherwerbs.

(b) Zwar leitet Mahrhofer aus ihren Ergebnissen "Überlegenheitstendenzen" für den von untersuchten LUFT-Schreiberwerbsansatz ab, jedoch werden die in dieser Dissertation aufgestellten Forschungshypothesen allesamt falsifiziert und zeigen daher keine deutliche Überlegenheit dieses Ansatzes gegenüber Vereinfachter Ausgangsschrift bzw. Lateinischer Ausgangsschrift. Insbesondere in der Kategorie "Leserlichkeit" erzielte der LUFT-Schreiberwerbsansatz zum Testzeitpunkt in der zweiten Klasse niedrigere Leistungswerte als die Vereinfachte Ausgangsschrift und auch die Lateinische Ausgangsschrift.

(c) Die Studie leidet unter einer inhomogenen Zusammensetzung der Untersuchungsgruppen mit einem auffälligen Mädchenüberschuss in der LUFT-Gruppe, was als potentiell begünstigend für eine Ergebnisverzerrung zugunsten der LUFT-Gruppe angesehen werden muss (vgl. ebd. S. 247, Tabelle 6-6, teilweise mit falschen Summenwertberechnungen). Weil Mahrhofer selbst keine Daten vorlegt, die diese mögliche Fehlerquelle entkräften, müssen sämtliche Ergebnisse unter diesem Vorbehalt gesehen werden (vgl. hierzu die ausführliche Darstellung der Untersuchung von Mahrhofer (2004)).

4. Abschließende Bewertung

„Auf diesen Grundlagen entstand die Konzeption einer neuen Schriftdidaktik, die seitdem unter dem Namen "Grundschrift" firmiert und sich in der Schulpraxis verbreitet.“ (zitiert nach Bartnitzky / Hecker, Mit der Grundschrift zur persönlichen Handschrift, September 2014; Quelle: http://www.die-grundschrift.de/konzept/warum-und-wie/ Stand 04.01.2016)

Kommentar: Anhand der dargestellten Sachverhalte wird klar, wie schmal die behaupteten "Grundlagen" ausfallen, die vom Grundschulverband vollmundig als "Schriftdidaktik" bezeichnet werden. Das Fehlen einer Nebenfolgenabschätzung verweist auf eine unseriöse Vorgehensweise durch eine naiv-unkritische Rezeption der eigenen Lieblingsidee. Der für die Grundschrift inflationär eingesetzte Werbespruch "Damit Kinder besser schreiben lernen!" kann bereits aus den "Grundlagen" nicht schlüssig hergeleitet werden. Auch empirische Untersuchungen jüngeren Datums verweisen deutlich auf ggf. zu hoch gesteckte Erwartungen hinsichtlich einer Arbeitsersparnis beim Verzicht auf eine verbundene Ausgangsschrift (vgl. z.B. Hurschler Lichtsteiner/ Betschart 2011: 171) oder können keine signifikanten Vorteile für die Grundschrift beim Vergleich mit der Vereinfachten Ausgangsschrift feststellen (vgl. Speck-Hamdan et al. (2016) mit einem Vergleich von Vereinfachter Ausgangsschrift und Grundschrift in den Klassenstufen 2 und 3, der im Rahmen einer wissenschaftlichen Begleitung der Erprobung der Grundschrift an sieben bayerischen Grundschulen im Schuljahr 2011/12 stattfand und zum Verzicht auf die Grundschrift für den Grundschulbereich in Bayern führte). Da auch eine Vielzahl weiterer im Zusammenhang mit der Grundschrift getätigten Aussagen und Begründungen - wie in diversen Kapiteln dieser Homepage aufgezeigt - sich als wenig belastbar, fadenscheinig konstruiert oder sogar unwahr erweisen, kann geschlussfolgert werden, dass das Grundschriftkonzept bislang vorrangig auf naiv-unkritischem Wunschdenken, Pseudoargumentation und wenig belastbarer Empirie aufgebaut ist.

Literatur



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