Bruchstellen in Theorie und empirischen Belegen

In diesem Kapitel werden theoretisch vorhersagbare Bruchstellen im Grundschriftkonzept beschrieben und deren Folgen anhand von Belegen beschrieben.

1. Defizite bei der theoretischen Fundierung des Grundschriftkonzeptes

In Veröffentlichungen zum Grundschriftkonzept findet sich eine nur unzureichende Einbindung in bestehende Konzepte zum Schriftspracherwerb. Dies liegt besonders im nicht gerade üppigen Forschungstand zum Bereich des Schriftspracherwerbs begründet (vgl. Baurmann 2001: 208f.; Medwell/Wray 2008: 35ff.). Andere Autoren (vergleiche folgendes Zitat) erreichen durch ihre Forschungsunternehmungen eine deutlich breitere Perspektive und unterscheiden vier beim Schreiben mit der Hand interagierende Einheiten der Sprachverarbeitung:

„An ambitious programme of structured research undertaken in the last ten years involving cross-sectional, longitudinal and instructional studies (Berninger, 1994, Berninger & Graham, 1998; Berninger et al., 2006) has established, that handwriting is far from a purely motor act. A series of studies (Berninger et al., 2006) have examined the way language works with the sensory and motor system to produce and receive language, identifying four functional language systems: language by ear, language by mouth, language by eye, language by hand, each language system with its own developemental trajectory.” (Medwell/Wray 2008: 39)

Gleichzeitig erwächst in jüngster Zeit durch moderne bildgebende Verfahren ein zunehmend differenzierteres Verständnis von neuronalen Strukturen und Aktivierungszuständen beim Schreiben und Schreiberwerb, durch welche die bestehende Theorienlandschaft wie auch die empirische Überprüfbarkeit eine erhebliche Erweiterung erfahren wird (vgl. z.B. Planton et al. 2013; Erhard et al. 2014 mit der mittlerweile technischen Möglichkeit, zeitgleich während einer Untersuchung mit Hilfe der funktionalen Magnetresonanzbildgebung (fMRI) schreiben zu können.)

In deutlichem Kontrast dazu steht beim Grundschriftkonzept der weitgehende Verzicht auf eine theoriegeleitete Fundierung. Augenfällig ist das Fehlen einer seriösen Kalkulation von Wechselwirkungen und Nebenfolgen (zum Beispiel in Bezug auf die 4 Einheiten der Sprachverarbeitung; siehe Zitat oben). Besonders die perspektivisch auf das "Schreiben mit der Hand" verengte Betrachtung des Gegenstandsbereiches belegt eigentlich bereits fehlendes Verantwortungsbewußtsein und lässt nichts Gutes erahnen. Vieles deutet auf eine Haltung der Beliebigkeit und fehlenden Ernsthaftigkeit hin, wenn in Veröffentlichungen dem Leser wiederholt bislang weitgehend unbelegte „Vorteile” der Grundschrift („Damit Kinder besser schreiben lernen“ vgl. z.B. Bartnitzky et al. 2011) suggeriert werden.

Eine von Grundschriftbefürwortern häufig zitierte wissenschaftliche Arbeit, die sich eingehender mit den theoretischen Grundlagen des Schriftspracherwerbs auseinandersetzt, ist die Dissertation von Mahrhofer (2004). Sie bildet überwiegend den Diskussionsstand der 80er bzw. 90er Jahre ab, da nur 22 Literaturverweise mit dem Veröffentlichungsdatum ab einschließlich dem Jahr 2000 angeführt werden. Die Dissertation beschäftigt sich mit dem Entwurf einer „LufT-Ausgangsschrift“ und eines “LufT-Schreiblehrgangs“ und dessen empirischer Überprüfung (vgl. ebd. S. 188ff.). Die von Christina Mahrhofer (2004) vorgeschlagene LufT-Ausgangsschrift dürfte vermutlich Vorbild und Vorläufer der Grundschrift sein. Eine ihrer zentralen Annahmen lautet wie folgt:

„Im Gegensatz zu Jarmann vertritt die vorliegende Arbeit den Standpunkt, dass ein Druckbuchstabenformeninventar in eine verbundene Schrift übergeleitet werden kann, wenn die Druckschriftform den motorischen Abläufen der verbundenen Ausgangsschrift entsprechen oder aber ohne Behinderung in sie zu überführen sind.“ (vgl. ebd. S. 193)

Das Zitat hebt vorrangig auf die motorische Ebene („language by hand“) des Schreibenlernens ab, was grundsätzlich als Verkürzung des Gegenstandbereiches angesehen werden muss. Lässt man sich nun auf diese verkürzende Argumentation von Grundschriftbefürwortern ein, dann erscheint es sinnvoll drei Analyseebenen zu unterscheiden.

1.1 Die Analyseebenen für den motorischen Schreiberwerb

Auf der Ebene des Schriftbildes können Aspekte wie Qualität des Schriftbildes (z.B. Strichbeschaffenheit, Druckgebung, Bewegungsausführung, Formgebung, Ausdehnung und Flächengliederung ; vgl. hierzu Baurmann, 2001: 209), implizite Bewegungsanforderungen der Ausgangsschrift, die Leserlichkeit, die Schreibgeschwindigkeit, Rechtschreibung, Textproduktion analysiert und unterschieden werden.

Die Ebene der schreibmotorischen Ausführung kann über PC-gestützte Analyseverfahren näher geklärt werden mit denen Schreibdruck, Schreibgeschwindigkeit, Schreibflüssigkeit und Stiftbewegung analysiert werden können. Auch wäre es möglich, die Muskelspannung der schreibenden Finger über entsprechende Erhebungsinstrumente zu erfassen. Hinsichtlich der schreibmotorischen Ausführung liegt bislang nur eine bedauerlich geringe Menge von erhobenen Schriftproben vor. So sind dies häufiger nur grundsätzliche Bewegungsmuster, einzelne Worte („Luft“ bei Mahrhofer 2004) oder kurze Sätze („die Kinder lachen“ bei Marhofer 2004; „Die Kinder fliegen nach Amerika.“ bei Hurschler Lichsteiner et al. 2010), was die Aussagekraft dieser Analyseverfahren unnötig einschränkt.

Die kognitive/neuronale Ebene kann über das Erfragen von (selbstreflexivem) Metawissen zum Schreibvorgang, dessen individueller Ausführung und materialer Rahmenbedingungen erfasst werden. Die Anwendung bildgebender Verfahren ermöglicht seit jüngster Zeit eine genauere Kartierung von besonders stark aktivierten Hirnarealen. Diese Methoden kommen erst in jüngerer Zeit verstärkt zum Einsatz und dürften einen erheblichen Erkenntnisgewinn für die Schreibforschung beisteuern. Am vielversprechendsten wäre in diesem Zusammenhang eine Kombination von elektronischer Erfassung von Schreibbewegungen bei gleichzeitiger Aufzeichnung eines funktionalen MRT, wie sie in jüngster Zeit auch in Deutschland technisch umsetzbar sind (s.o., sowie Erhard et al. 2014).

1.2 Die zentralen schriftbezogenen Annahmen der Grundschriftbefürworter

Beschränkt man sich - im Wissen um die Problematik und Unangemessenheit dieser perspektivischen Verkürzung - vorrangig auf die motorische Ausführungsebene des Schreibens („language by hand” s.o.), dann werden bei den Grundschriftbefürwortern folgende Grundannahmen deutlich:

  1. Routinierte Schreiber neigen in ihrer Schriftausführung eher zu einem geringeren Verbindungsrad beim Schreiben. (Die Herleitung und empirische Fundierung dieser Annahme wurde bereits im Kapitel »Stift absetzen 2-3 Buchstaben« kritisch hinterfragt.)
  2. Es wird als möglich angesehen, im Prozess des Schreiberwerbs aus einer kontinuierlichen Weiterentwicklung von Grundschriftdruckbuchstaben eine teilverbundene routinierte Schreibschrift zu entwickeln (s.o. Zitat von Mahrhofer 2004), welche zumindest den recht unspezifischen kultusministeriellen (Minimal-) Anforderungen an die Schreibkompetenz (Geläufigkeit und Leserlichkeit) standhält.

2. Die Bruchstellen in der theoretischen Konzeptionalisierung

Versucht man mittels der drei oben unterschiedenen Analyseebenen, den Prozess des Schreiberwebs modellhaft abzubilden, dann lässt sich schematisch folgender Ablauf beschreiben: Durch die Konfrontation mit der Ausgangsschrift erhält der Schreibanfänger erste Orientierungen über die zu schreiben Buchstaben und deren Verbindungen. Durch stetiges Üben entwickelt sich eine zunehmende schreibmotorische Kompetenz. In Form einer rekursiven Wiederholungsschleife zwischen erworbener schreibmotorischer Kompetenz und darauf aufbauender schrittweise zunehmender schreibmotorischer Bewegungsgeschicklichkeit entwickeln sich über einen längerandauernden Aneignungsprozess automatisierte Schreibbewegungen, die dann wiederum in ein routiniertes Schriftbild münden. Hier schematisch die Entwicklungssequenz bei ausschließlicher Betrachtung der motorischen Abläufe:

Die Überlegungen der Grundschriftbefürworter setzen sich nun für das Ziel einer routiniert-teilverbundene Handschrift ein. Hierbei wird geflissentlich übersehen, dass die routiniert-teilverbundenen Schriften natürlich Vorläuferbedingungen aufweisen, die sich in der Schreiblernbiographie der untersuchten Schreiber finden. Selbst wenn ein routinierter Schreiber mit einem an die Druckschrift angelehnten teilverbundenen Schriftbild aufwartet, schließt das nicht aus, dass er in seiner Schreiblernbiographie vom Vorbildern oder den Anforderungen einer verbundenen Schrift mitgeprägt wurde. Es ist sogar für die überwiegende Mehrzahl der in „kleinen Forschungsunternehmungen der Universität“ (Menzel 2010: 23) anscheinend untersuchten Schriften anzunehmen, dass ihre Schreiber im Lauf ihrer Schreiberwerbskarriere Zeiten mit dem Erlernen eines verbundenen Schriften verbrachten und ein einzügig-verbundenes Schreiben einübten. Damit besteht also auch bei unverbunden ausgeführten Erwachsenenschriften bei einer schulischen Sozialisation in Deutschland mit hoher Wahrscheinlichkeit eine gewisse Verwobenheit mit der Vorläuferbedingung einer verbunden angelegten schreibmotorischen Ausführung und entsprechend ausgebildeter kognitiver Schemata / neuronaler Muster.

Wenn nun die „Grundschrift“ eine verbundene Ausgangsschrift ersetzen soll, ist es sehr wahrscheinlich, dass hierdurch Veränderungen auf der Ebene der schreibmotorischen Ausführung und möglicherweise auch auf der kognitiven/neuronalen Ebene bewirkt werden. Durch das Ersetzen einer verbunden ausgeführten Ausgangsschrift durch die Grundschrift werden unmittelbar auch die Vorläuferbedingungen für das Erreichen einer druckschriftangelehnten teilverbundenen routinierten Handschrift (im Erwachsenenalter) verändert. Die Veränderung der Vorläuferbedingungen wird durch eine nicht näher theoretisch fundierte, aber implizit als plausibel angesehene »Grundschrift-Linearitätsannahme« (Begriffschöpfung des Verfassers) überbrückt, die sich wohl vor allem darauf stützt, dass die Grundschrift und druckschriftangelehnte teilverbundene Erwachsenenschriften sich im Schriftbild recht ähnlich sehen. Ob sie sich auf der Ebene der schreibmotorischen Ausführung und auf der kognitiven/neuronalen Ebene auch noch ähneln, wird nicht thematisiert. Somit ergeben sich zwischen der Grundschrift als Ausgangsschrift und dem druckschriftangelehnten routinierten teilverbundenem Schreiben zunächst noch nicht näher geklärte Verlaufsentwicklungen des Schreiberwerbs, von denen mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sie sich qualitativ vom bisherigen Aneignungsprozess über ein explizit abgefordertes verbundenes Schreiben unterscheiden werden.

Im Folgenden werden die ersten Hinweise auf derartige Bruchstellen beschrieben.

3. Die Bruchstelle auf der motorischen Ebene: Erste empirische Hinweise

Wie aus den Überlegungen zur theoretischen Bruchstelle abgeleitet werden kann, sollten sich mit erhöhter Wahrscheinlichkeit Unterschiede in der motorischen Ebene der Bewegungsausführung beim Schreiben ergeben, wenn die Grundschrift eine verbunden ausgeführte Ausgangsschrift ersetzt. Belege für derartige Unterscheide werden nun im folgenden Abschnitt angeführt.

Zur Geläufigkeit von Grundbewegungen, Schreibfrequenz und Stiftdruck beim Schreiben

Mangels verlässlicher Daten zur Grundschrift wird in diesem Abschnitt auf Studienergebnisse aus der Schweiz zurückgegriffen. Dort wurde im Kanton Luzern die Einführung einer »Basisschrift« (in den folgenden Zitaten BS) wissenschaftlich mit einer kleinen, jedoch methodisch akzeptablen Studie begleitet. Kontrastiert wurde die Basisschrift mit der bislang in der Schweiz verwendeten verbunden ausgeführten »Schnürlischrift« (in den folgenden Zitaten abgekürzt als VS). Die unten angeführten Ergebnisse beziehen sich auf den Vergleich von Dritt- und Vierklässlern.

„Zur Validierung wurde ferner kontrolliert, wie gross der Anteil (in Prozent) der mit aufgesetztem Stift gearbeiteten Phasen war im Verhältnis zur effektiv für das Abschreiben des Satzes [Die Kinder fliegen nach Amerika.] aufgewendeten Zeit. (…) Es zeigte sich, dass dieser Anteil bei den BS-Kindern kleiner war als bei Kindern mit VS. Da die Basisschrift nur noch teilweise Verbindungen verlangt, war ein Unterschied zu erwarten, er fällt aber doch sehr bedeutsam aus (…). ” (zit. Hurschler Lichtsteiner et al. 2010: 38; Anmerkung in eckiger Klammer durch den Verfasser)

Kommentar: Mit dem diskrepanten Zeitanteil des Schreibens mit aufgesetztem Stift deutet sich ein erster qualitativer Unterschied zwischen der verbundenen Schrift und der Basisschrift klar an.

„Zur weiteren Kontrolle wurden auch die grafomotorischen Grundbewegungen als mögliche Vorläuferfertigkeiten der Schrift erfasst und ausgewertet. Für die Auswertung wurden die NIV-, Frequenz- und Druckwerte von allen Bewegungen zu je einer Skala zusammengefasst. Wir rechneten 2-faktorielle ANOVAs mit den unabhängigen Variablen Schrift und Geschlecht und den Schriftkennwerten (NIV, Frequenz und Druck) als abhängigen Variablen. (…) Bei allen drei Skalen der Grundbewegungen schneiden die Kinder der VS-Gruppe signifikant besser ab.” (ebd.: 40)

Kommentar: Die drei genannten Werte (NIV = Anzahl der Geschwindigkeitsumkehrungen pro Stricheinheit als Maß für den Automatisierungsgrad, Frequenz = Anzahl der Auf- und Abbewegungen pro Sekunde, Druck = Druck des Stiftes auf die Schreibunterlage vgl. hierzu ebd. S. 26f.) sind gebräuchlich, um den Automatisierungsgrad des Schreibbewegungen von routinierten Schreibern zu quantifizieren. Die Ergebnisse aus der Schweiz verdeutlichen, dass mit der Basisschrift die Ausführung von Grundbewegungen des Schreibens bei Schülern der 3. und 4. Jahrgangsstufe zumindestens zeitlich deutlich später oder möglicherweise auch gar nicht in der bisher üblichen Form ausgebildet werden.

„Hinsichtlich der Frequenz vermögen beide Gruppen noch nicht mit dem Tempo Erwachsener (ca. 5Hz) mitzuhalten; die Kinder mit VS weisen jedoch deutlich bessere Werte auf als die Kinder mit BS (…).” (zit. ebd.: 42)

Kommentar: Auch dieser Befund deutet darauf hin, dass mit der Basisschrift eher eine Verzögerung im Erwerb des routinierten Schreibens verbunden ist. Weiterhin stellt sich die Frage, ob die Frequenz der Schreibbewegung für spätere Anforderungen des besonders schnellen Schreibens eine wichtige Grundlage bilden könnte.

„Beim Druck erreichen die Kinder mit VS bereits die Werte, welche im Erwachsenenalter als optimal gelten (≤ 1,5N), bei Kindern mit BS liegen sie mit 1,7 N auch nur geringfügig darüber, die Streuung nach oben ist jedoch grösser (vgl. Tab. 9 und Ann. 17).” (zit. ebd.: 42)

Kommentar: Dieser Befund lässt sich so interpretieren, dass die behauptete Muskelentspannung (erreicht durch häufigere Luftsprünge bei einem geringeren Verbindungsgrad von Buchstaben innerhalb eines Wortes) sich nicht als optimierter Schreibdruck bei den Basisschriftschreibern wiederfindet. Diesbezüglich kann die Frage erhoben werden, ob dies eine Wirkung der druckschriftangelehnten Schreibweise darstellt, durch die eher eine „Start-Stop-Start-Stop”-Dynamik in der Schreibbewegung zu verzeichnen ist, welche für die größere Streuung verantwortlich sein könnte. Es stellt sich weiterhin die Frage, inwieweit die von Grundschriftbefürwortern als besonders bewegungsoptimiert dargestellte Grundschrift (Werbebotschaft: „Schreiben mit Schwung” vgl. Bartnitzky 2010b), die eine hohe Ähnlichkeit mit der schweizer Basisschrift aufweist, auf der Ebene der schreibmotorischen Ausführung keine optimierten Ergebnisse oder gar signifikante Vorteile hervorbringen könnte.

Ein stutzig machender Sachverhalt findet sich hinsichtlich der Ausführung von basalen Schreibmustern bei Mahrhofer (2004). Sie untersucht in ihrer Studie drei (Schreib-) Muster (wiederholte senkrechte Abwärtsstriche, wiederholte Druckschrift-l und Doppelschleifen). Während die beiden ersten Muster an allen 6 Erhebungszeitpunkten (Dez./Jan. 1999, April 1999, Juli 1999, November 1999, März 2000, Juli 2000; vgl. hierzu Marhofer, 2004: 292 Tabelle 6.33) erhoben wurden, wurden die Doppelschleifen nur an den letzten 4 Erhebungszeitpunkten untersucht. Mahrhofer führt in der Ergebnisdarstellung jedoch keine Daten zu den Doppelschleifen an und vergleicht ausschließlich die Entwicklung bei den senkrechten Abstrichen und Druckschrift-l (vgl. ebd. S. 292-298). Es erscheint grundsätzlich ungewöhnlich, dass erhobene Daten in einer empirischen Untersuchung im Ergebnisteil übergangen werden und nicht zur Darstellung gelangen. Ebenfalls erscheint es ungewöhnlich, dass der Verzicht auf die Ergebnisdarstellung bei den Doppelschleifen nicht speziell begründet wird. An der Ausführung von Doppelschleifen kann mit hoher Wahrscheinlichkeit am ehesten der Automatisierungsgrad kombinierter Finger-Handbewegungen operationalisiert werden. Gleichzeitig dürften hier am ehesten Unterschiede zwischen den bei Marhofer (2004) zum Vergleich stehenden verbundenen Schrifttypen (Lateinische Ausgangsschrift, Vereinfachte Ausgangschrift) und der untersuchten LufT-Schrift ersichtlich werden.

4. Die Bruchstelle auf der kognitiven / neuronalen Ebene

Am Anfang dieses Kapitels wird die Ansicht von Mahrhofer (2004) zitiert, die davon ausgeht „dass ein Druckbuchstabenformeninventar in eine verbundene Schrift übergeleitet werden kann (…).“ (vgl. ebd. S. 193). In deutlichem Gegensatz hierzu stehen zum Teil Erfahrungen mit der schweizer Basisschrift:

„Es kommt häufig vor, dass Kinder zunächst mit den vorgeschlagenen Verbindungen wenig anfangen können und sie nicht ausführen, wenn sie nicht explizit verlangt werden.” (Hurschler Lichtsteiner / Jurt Betschart, 2011: 167)

„Die Verbindungen müssen also wirklich eingeführt und geübt werden, um die damit einhergehenden Planungsschritte zu automatisieren und nicht zu lange den Prozess der Verschriftlichung zu belasten. Weil sich das Bild des Wortes als verbundene Ganzheit nicht mehr von selber ergibt, muss zudem dem Aufbau eines Raumgefühls für die Abstände zwischen den Buchstaben und zwischen den Wörtern vermehrt Rechnung getragen werden.” (Hurschler Lichtsteiner/Jurt Betschart 2011: 171; Hervorhebungen durch den Verfasser).

Für die Grundschrift wird im Jahr 2016 ähnliches beschrieben:

Wortabstände müssen mehr Beachtung finden, da das Wort nicht mehr automatisch durch Absatzen des Stiftes endet. Deshalb führten wir in Klasse 1 einen Stern (*) als Markierungszeichen für das Wortende ein.
Ein besonderes Augenmerk legten wir auch auf die mitunter entstandenen Lücken im Wort. Sie können entstehen, wenn Buchstabengruppen innerhalb eines Wortes mit Schwung geschrieben und der oder die fehlenden Buchstaben durch Luftsprung noch an das Wort angehängt werden und dabei zu viel Platz gelassen wird. Der Stern am Wortende und die zielgerichteten Rückmeldungen in den Schriftgesprächen halfen dazu, die fehlenden Wortabstände und Lücken in Wörtern merklich zu reduzieren. Der Stern wurde in Klasse 2 nicht mehr benötigt.
Die Verbindungen wurden jeweils mit viel Zeit und in ritualisierten Übungsphasen eingeführt. Die Kinder können sich nur bewußt für oder gegen die Buchstabenverbindung aussprechen, wenn sie sie auch selbst ausprobiert haben. Deshalb ließen wir den Kindern zunächst nicht die Wahl, sondern verpflichteten sie, die Buchstabenverbindungen zu üben und im Schriftgespräch zu überprüfen. In freien Schreibstunden durften sie dann selbstverständlich selbst entscheiden, welche Verbindungen sie nutzen wollten und welche nicht.” (zit. n. Dietrich/Metz, 2016, S. 211f.)

Ein ähnliches Bild für die sich nicht aus der Logik des Schriftbildes ergebende Sinnhaftigkeit von Buchstabenverbindungen für eine Grundschule in Veen (Deuschland) beschreiben Bode / Winzen:

„Kinder, die während der gesamten Grundschulzeit in Druckschrift geschrieben haben, behalten offenbar auch in der Sekundarstufe überwiegend die Druckschrift bei, aus der sie, meistens schon in der Grundschulzeit, ihre Handschrift entwickeln. Einzelne Buchstaben werden eher wenig oder gar nicht sichtbar verbunden.” (Bode / Winzen, 2011: 157; Hervorhebung durch den Verfasser).

Die obigen Zitatstellen belegen, dass der Druckbuchstabencharakter der Basis- oder Grundschrift trotz der Möglichkeit zur Anwendung von Wendebögen von den Schülern nicht automatisch oder aus einer Buchstabengestalt innewohnenden Logik heraus zu einer verbundenen Schreibweise erweitert wird. Sie liefern damit indirekt auch einen Beleg für den prägenden Charakter der Erstschrift und der damit verbundenen Bewegungsabläufe.

5. Die Bruchstelle beim Erlesen verbundener Schriften

Es muss die Frage gestellt werden, ob die ausschließliche Sozialisation im Druckschriftschreiben die Befähigung zum Erlesen verbundener Handschriftenbeeinträchtigt? Für diesen Bereich liegen bislang wenige Erkenntnisse vor. So gibt es anekdotenhafte Berichte, dass angloamerikanisch sozialisierte Studenten verstärkte Schwierigkeiten beim Lesen von Handschriften des 20. Jahrhunderts haben. (vgl. Arte Dokumentation: Wie unser Hirn lesen lernt, Min 43:10 - 44:00)

Bode und Winzen (2010) beschreiben, dass weiterführende Schulen berichteten, dass manche druckschriftsozialisierten Kinder noch bis in Klasse 6 die Tafelanschriebe von Lehrkräften nicht ausreichend gut lesen konnten.

„Im Herbst 2009 habe ich an allen Schulen, die unsere Schüler aufnehmen, eine mündliche Abfrage hinsichtlich Auffälligkeiten beim Schreiben der Veener Kinder gemacht. Hier kamen keine negativen Rückmeldungen, abgesehen von zwei Stimmen, die Angaben, Kinder von unserer Schule in Klasse fünf oder sechs hätten die Tafelanschriebe der Lehrer nicht lesen können. Hier ist zu berücksichtigen, dass sich auch Lehrer manchmal unangepasst verhalten.” (zit. n. Bode/Winzen, 2011: 152)

Interessant bei der Darstellung von Bode/Winzen ist die undifferenziert-dümmliche Ursachenzuschreibung ("Lehrer manchmal unangepasst"), mit der man absichtlich wohl nicht zur Kenntnis nehmen will, dass die Kompetenz zum Erlesen verbunden ausgeführter Handschriften wohl in der Grundschulzeit nicht angemessen auftrainiert werden konnte. Bode / Winzen sehen für die Überbrückung dieses Kompetenzdefizits die Lehrkräfte der Sekundarstufe in der Pflicht, nicht jedoch die Ausgestaltung des eigenen Deutschunterrichts.

Eine mittlerweile größere Anzahl von Befunden spricht dafür, dass beim Lesen auch prämotorische Kompetenzen zur Buchstabenidentifikation eingesetzt werden. Im Jahr 2003 formulieren Longcamp et al. noch zrückhaltend:

„If there exists a close functional relation between the reading and writing motor processes, this means that our reading abilities might be somehow dependent on the way we write. Further experiments are now required to confirm this point.” (zit. n. Longcamp et al. 2003, S. 1499)

Im Jahr 2012 zeigen sich dann schon etwas konkretere Schlussfolgerungen:

„In summary, our data indicate that the activation of the left primary motor cortex has a functional impact on the visual processing of handwritten letters as early as 300 ms post-stimulus-onset. This impact is most important for the letters in which the motor-related information is the most relevant, that is, the letters produced by the observers themselves. The relative earliness of this effect, compared to the estimated latency of activation of the motor cortex in such tasks, [...]strongly suggests that the oscillatory state of the motor cortex exerts a top-down influence on the posterior regions responsible of visual processes such as script style analysis. Further work is required to establish the exact nature of this influence.” (zit. n. Wamain et al. 2012, S. 1772)

In eine entsprechende Richtung deuten Befunde aus der neurokognitiven Forschung, die bei (schreibschriftsozialisiertem) französischen Schreibern beim Erlesen von Schreibschrift eine zusätzlich deutlich stärkere motorische Aktivierung feststellen konnten, welche beim Erlesen von Druckschrift nicht beobachtet wurde. Dies wird als Rekurs auf ein erlerntes motorisches Bewegungsrepertoire interpretiert, das vorbewußt das Dekodieren/Erlesen von Schreibschrift mitbeeinflusst (vgl. Nakamura et al. 2012: 20766).

Es besteht nun die Möglichkeit, dass diese motorische Bewegungsrepertoire in Abhängigkeit vom Anforderungsprofil der erlernten Ausgangsschrift unterschiedlich ausgebildet wird und je nach Ausgangsschrift unterschiedlich gut automatisiert zur Verfügung steht.

Bereits andernorts wurde auf die Neueinführung des verbundenen Schreibens im angloamerikanischen Raum zur Therapie von rechtschreibgestörten Kindern verwiesen.

6. Schlussfolgerung

Die Ergebnisse aus der Schweiz weisen darauf hin, dass das Schreiben mit einer grundschriftähnlichen Schriftvariante zu deutlichen qualitativen Veränderungen hinsichtlich der Ausführung der Schreibbewegungen im Vergleich zu bislang gebräuchlichen verbundenen Schriften führt. Die mit der Basisschrift sozialisierten Kinder in der Studie von Hurschler Lichtsteiner et al. (2010) verfehlen auf der Ebene der Grundbewegungen bis in die 4. Klasse das Kriterium für ein automatisiertes Schreiben, das in der Forschung zur Schreibmotorik gültig ist. Dies bedeutet, dass die mit der Basisschrift sozialisierten Schüler mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein anderes motorisches Schreibmuster erlernen als ihre Eltern- und Großelterngeneration. Die Andersartigkeit der Schreibbewegungen zeigt sich auch auf der kognitiven bzw. neuronalen Ebene, wenn Schüler häufig aktiv dazu angehalten werden müssen, Buchstabenverbindungen herzustellen, da die Verbindungslogik nicht mehr direkt aus dem Schriftbild hervorgeht. Das eine solche Verbindung pragmatisch sinnvoll ist, beschreiben Hurschler Lichtsteiner / Jury Betschart (2011: 167) ausdrücklich, wenn sie festhalten:

„Je mehr der empfohlenen einfachen Verbindungen die Kinder machten, desto schneller (in Bezug auf die Frequenz) und lockerer konnten sie schreiben.”

Mit den Erkenntnissen aus der Schweiz zur Basisschrift wird deutlich, dass die angestrebte und behauptete „Bewegungsökonomie“ beim Schreiben mit einer grundschriftähnlichen Ausgangsschrift bis in die 4. Jahrgangstufe hinein keine Bewegungsoptimierung auf der Ebene der registrierbaren Grundbewegungsmuster erbringt. Es erscheint daher sehr wahrscheinlich, dass bei Verwendung der Grundschrift bei der Ausführung von basalen Schreibbewegungen nur eine niedrigere Kompetenzstufe bis in die höheren Klassen der Grundschule erreicht wird. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit Behauptungen von Grundschriftbefürwortern, die Grundschrift sei bewegungsoptimiert, aufrechterhalten werden können?

Die empirischen Hinweise bei den Grundbewegungen (s.o.) wie auch zur Verbindungslogik von Buchstaben weisen darauf hin, dass Jarmann – auch wenn Mahrhofer als Grundschriftbefürworterin ihm hierin nicht folgen wollte – mit seiner Stellungnahme richtig lag, wenn er meint:

„Unfortunately, printing or lettering never turns into flowing handwriting. So at some time in every print scripter‘s school live a ‚change‘ has to be made, often with desastrous results. There is no real relationship between print script and any cursive style in the matter of hand movements, although there is a relationship in the shapes.” (Jarman, 1977, 11) (Zitat einschließlich der originalen Quellenangabe übernommen aus Mahrhofer 2004: 193)

In der Übersetzung des Verfassers lautet das obige Zitat wie folgt:

Unglücklicherweise geht das Schreiben von Druckbuchstaben oder das Schreiben von getrennten Einzelbuchstaben nie in eine verbunden fließende Schrift über. Daher muss zu irgendeinem Zeitpunkt in der Schulkarriere eines jeden Druckschriftschreibers ein Wechsel erfolgen, der oft mit desaströsen Ergebnissen einhergeht. Trotz der Formähnlichkeit der Buchstaben, gibt es hinsichtlich der Bewegungen der Schreibhand keine wirkliche Ähnlichkeit zwischen dem Druckschriftstil und jedem anderen kursiv-verbunden Schreibstil.

Die aus der schweizer Studie von Hurschler-Lichtsteiner et al. (2010) oben angeführten Zitatpassagen zeigen, dass die bereits theoretisch wenig plausible Annahme der „Grundschrift-Linearität“ auch auf der Ebene der Bewegungsausführung nicht das Ziel einer routinierten Schreibbewegung erreicht, dem sie sich eigentlich annähern wollte. Die oben angeführten Ergebnisse zur schweizer Basisschrift weisen ebenfalls deutlich darauf hin, dass eine grundschriftähnliche versus eine verbunden ausgeführte Schriftvorlage jeweils spezifische Charakteristika aufweisen, die unmittelbar in die Bewegungsausführung und den sinnvoll erscheinenden Verbindungsgrad einflieβen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Bara / Morin (2013) in einer vergleichenden Untersuchung langfristiger Einflüsse von kursiv-verbundener Erstschrift versus Druckschrift als Erstschrift. Die Tatsache des maßgeblich prägenden Charakters der Erstschrift versuchen Grundschriftbefürworter wiederholt umzudeuten und wegzudefinieren (vgl. Menzel 2011: 137; Mahrhofer-Bernt 2011: 34f.), indem sie sich häufig auf eine plumpe Analogie zwischen dem Erscheinungsbild der Grundschriftbuchstaben und den teilverbunden-routinierten Schriftbildern von Erwachsenen (»Grundschrift-Linearitätsannahme«) oder allgemein auf das „Schrift-Kulturgut der lateinischen Antiqua” berufen (vgl. z.B. Bartnitzky 2012). Dass bereits bei der Beschränkung auf die rein schreibmotorische Perspektive (language by hand) klare Bruchstellen auf der schreibmotorischen bzw. kognitiven/neuronalen Ebene auszumachen sind, muss als Beleg für die Amateurhaftigkeit der Ausarbeitung des Grundschriftkonzeptes gewertet werden (vgl. hierzu auch "Dilettantisches Herumbasteln an der Schrift". Interview mit Renate Tost s.u.). Wenn zusätzlich mögliche Wechselwirkungen mit anderen Bereichen des Schreiberwerbs (language by ear, language by mouth, language by eye; s.o.), des Lesenlernenes, der Befähigung zum Erlesen von verbundenen Handschriften, der Wortbildabspeicherung (vgl. hierzu verbundenes Schreiben als Baustein von Rechtschreibtherapien im angloamerikanischen Raum link zum Kapitel 'Verbundene Schrift und LRS') usw. von Grundschriftbefürwortern nicht ernsthaft thematisiert oder problematisiert werden, dann stellt dies einen klaren Beleg für die Kurzsichtigkeit des Grundschriftkonzeptes dar. Aus den genannten Gründen erscheint die Annahme berechtigt, dass bis zum empirisch überzeugenden Beleg des Gegenteils das Grundschriftkonzept als potentiell gefährlich einzustufen ist.

Literatur:

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